Die Zeitzeugen, die Erlebnisgeneration der Enteignung und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Osteuropa werden immer weniger. Die Weitergabe von Wissen und Erinnerung an die nächsten Generationen geht allmählich in dem Forschungs- und Wirkungsbereich der Historiker über. Die unmittelbare mündlich-familiäre Tradierung der erschütternden Ereignisse, die nach Kriegsende auch auf unsere Volksgruppe in Ungarn unvermittelt hereinbrach, läuft aus. Die Erinnerungen verblassen und versinken, nur mehr die Geschichtsschreiber werden sie weiter transportieren und im kulturellen Gedächtnis der Deutschen wachhalten können. Es ist ein natürlicher, völkerübergreifender Prozess. Wer von den jüngeren Ungarndeutschen weiß z.B. etwas über die einzigartige Kraftanstrengung des Landes Hessen – und insbesondere der Region um Darmstadt – bei der Bewältigung der Eingliederung von fast einer halben Million Vertriebenen und Flüchtlingen? Dreißigtausend von ihnen waren Ungarndeutsche. Von ihrer Aufnahme und gelungenen Eingliederung durch engagierte kirchliche Stellen und staatliche Persönlichkeiten, und nicht zuletzt die einheimische Bevölkerung, referierte Krisztina Kaltenecker Dürr MA am Nachmittag des 59. Stiftungsfestes der Suevia Pannonica in Stuttgart.
Exemplarisch herausgestellt wurde die Donausiedlung in Darmstadt, die als „evangelische Bauhandwerkersiedlung“ bezeichnet werden kann und die katholische „landwirtschaftliche“ St. Stephan-Siedlung in Griesheim (bei Darmstadt). Besonders zwei Faktoren seien für die gelungene rasche Eingliederung der Ungarndeutschen in dieser Region hervorzuheben. Zum einen die herausragende Persönlichkeit des SPD-Bürgermeisters von Darmstadt (und Mitgliedes der Bekennenden Kirche), Ludwig Metzger, der 1948-49 ausdrücklich ungarndeutsche (und bukowinadeutsche) Vertriebene in seinem Umland aufnahm. Bei der Koordinierung der evangelischen Ansiedlungsaktion hat die von unserem Bbr. Prodekan Spiegel-Schmidt beauftragte vormalige Angestellte im Deutschen Haus in Budapest, Irma Steinsch (Schlesierin) wesentlich mitgewirkt. Die Donausiedlung in Darmstadt wurde zum „Zentrum“ von evangelischen Vertriebenen insbesondere aus dem Komitat Tolnau.
Das Engagement der katholischen Kirche konzentrierte sich auf die St. Stephan-Siedlung in Griesheim bei Darmstadt. Hier wurde das bekannteste Großprojekt für die vertriebenen Landwirte überhaupt in Hessen aufgelegt, in deren Rahmen zunächst, im Jahre 1948, 40 Bauernfamilien eine Hofstelle und 80 Hektar Siedlungsland zur Pacht bekamen. Ungarndeutscherseits war Rechtanwalt Viktor Gußmann die treibende Kraft.
Als einen weiteren, mitentscheidenden Aspekt für die geglückte Eingliederung in der evangelischen Bauhandwerkersiedlung benannte die Referentin das Zupacken und die Beharrlichkeit der Nebenerwerbsbauern und Bauhilfsarbeiter selbst. Wohlwollende Aufnahme der Vertriebenen war aber auch hier singulär. Auffallend war ihr unbedingter Wille zum sozialen Aufstieg und ihr ausgeprägter Selbstversorgungsinstinkt. Die meisten Donausiedler hielten – wie in ihrer alten Heimat – Schweine und Hühner und wurden wegen der „Verunstaltung“ der geplanten Wohnsiedlung bald mit Beschwerden konfrontiert. Deshalb wurde die Haustierhaltung in der Donausiedlung Darmstadt nach sechs Jahren (1954/55) behördlich abgeschafft. Aus der Donausiedlung-Gemeinschaft kamen zwei der bekanntesten SPD-Politiker der zweiten Generation der Ungarndeutschen Heimatvertriebenen, Heinrich Knieß und Josef Lach jun., beide von Beruf eigentlich Lehrer.
Die „hessischen“ ungarndeutschen Neubürger hielten ihren ersten Schwabenball in Darmstadt ab. In Hessen wurde die Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn 1950 in Darmstadt gegründet.
In Hessen in der Umgebung von Marburg wirkte der ev. Heimatpfarrer Robert Danielisz (früher Harkau), der lange Zeit noch die Rückkehrillusion unter seinen ehemaligen Gemeindemitgliedern wach hielt. Welcher patriotische Irrglauben und welche ungarndeutsche Enttäuschung, wie sie alle bitter erfahren mussten...